Traditionen sind fragil. Wo der Buchsbaumzünsler in Raupengestalt seine Palmprozession mit einem gepflegten Festmahl beschließt, bleibt kein Blatt grün am Zweige hängen. Der Kahlfraß bedeutet für den römisch-katholischen Brauch, am Palmsonntag kleine Buchsbaumzweige hinter das Kreuz zu hängen, eine echte Herausforderung. Bedroht diese kleine ostasiatische Raupe Nimmersatt nun die abendländische Tradition? Was glauben Sie denn?
Mit dem Palmsonntag beginnt für Christen die Heilige Woche. Für römisch-katholische Christen bedeutet das immer auch ein leibhaftiges Mitvollziehen der Ereignisse. In der römisch-katholischen Tradition findet in der Liturgie nicht eine bloße Erinnerung an vergangene Ereignisse statt; diese werden vergegenwärtigt: Wenn die Kirche Palmsonntag feiert, dann ziehen die Glaubenden heute mit Jesus in Jerusalem ein; wenn von Gründonnerstag bis zur Osternacht die Ereignisse von Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi gefeiert werden, dann sind die Glaubenden selbst leibhaftig dabei. In besonderer Weise wird das in der Passione Vivente der italienischen Mission in Wuppertal erfahrbar, die mehr ist als ein Passionsspiel – sie ist eine Erfahrung, die gegenwärtig macht, was damals in Jerusalem geschah. Das betrifft selbst die, die am Rande stehen und zuschauen – gläubig oder ungläubig. So war es ja damals in Jerusalem auch, als man dem Mann aus Nazareth den Querbalken des Kreuzes, das Patibulum auf die Schultern lud und damit zur Hinrichtungsstätte trieb. Es war sicher kein frommes und andächtiges Ereignis, als man ihn durch die lärmenden Gassen Jerusalems führte. Weil man ihn als Aufrührer angeklagt hatte, waren viele der Seinen geflohen; die Gefahr war zu groß, selbst als Komplize verhaftet zu werden. Schließlich war man wenige Tage vorher selbst lautstark nach Jerusalem gezogen und hatte ihm „Hosanna“ singend als König in Jerusalem begrüßt. Was konnte das anderes sein, als eine Revolte gegen die bestehende Ordnung. Und hatte dieser Handwerkerssohn aus Galiläa nicht im Tempel randaliert und die Händler angegriffen?
Heute hat man aus Jesus einen frommen und irgendwie belanglosen Heiland gemacht. Manche sich aufgeklärt Wähnende spotten über solche Mythen und Märchen – und sie haben Recht! Einen so netten Kerl hätte niemand ans Kreuz bringen wollen.
Tatsächlich aber ähnelt die Wirkweise Jesu dem der Raupe des Buchsbaumzünslers. Die neutestamentliche Überlieferung weiß von einer merkwürdigen Begebenheit zwischen dem Einzug in Jerusalem und seiner radikalen Aktion im Tempel zu berichten. Zwischen beiden Ereignissen hatte Jesus sich nach Bethanien zurückgezogen – ungefähr zwei Fußstunden von Jerusalem entfernt. Auf dem Weg von dort nach Jerusalem kommt er mit seinen Anhängern an dem Dorf namens „Betphage“, Feigenhausen, vorbei, wo offenkundig – daher der Name – Feigenbäume wachsen. Obschon nicht die Zeit der Feigenernte ist, sucht Jesus in einem der Bäume nach Früchten. Als er keine findet, verflucht er den Baum, der daraufhin verdorrt. Das ist weder fromm, noch nett und schon gar nicht belanglos. Das ist schockierend.
Ein netter Heiland tut so etwas nicht. Einer mit herausforderndem Verhalten schon. Und das alles soll ein Märchen sein? Selbst wenn, dann ist es ein höchst wirksames Märchen … eins, das seit 2.000 Jahren Menschen antreibt, die Dinge zu verändern. Dass Kleines Großes bewirken kann, zeigt ja schon die Raupe des Buchsbaumzünslers: Wenn alles kahlgefressen ist, sind da Schmetterlinge im Busch! Für die einen ein Grund zum Ärgern, für den Buchsbaumzünsler aber ein Aufbruch in ein neues Leben … Leben – das ist Veränderung!
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der WZ Wuppertal vom 12. April 2019
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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